Gute Gründe sich auf den Jakobsweg zu begeben
Nichts kann beruhigender auf eine Seele wirken als ein gut ausgeschilderter Weg. Ein Weg, den man sich selbst ausgesucht hat. Der einem helfen soll, zu sich zu finden. Und der ein Ziel darstellt, es mit genauem Namen benennt.
Nichts kann wohltuender auf eine Seele wirken als festzustellen, dass man richtig unterwegs ist. Nicht abweicht vom richtigen Weg, sich nicht verlaufen oder gar verirrt hat. Nichts macht einen gelassener als die Feststellung, dass diese Entscheidung richtig war, die man vollkommen frei und selbstständig getroffen hat.
Und man war nicht allein unterwegs. Tausende und Abertausende kämpften sich durch die gleichen Schwierigkeiten. Schmierten sich tagtäglich aufs Neue heilende Salben auf die Haut und die Gelenke, damit der Schmerz in den Waden, in den Schenkeln, in allen Muskelgruppen verschwände, von denen man vor dem Aufbruch nicht einmal ahnte, dass es sie im Körper überhaupt gab.
Jeder musste fertig werden mit der Hitze, mit der Kälte, mit dem Regen. Es gab kein Entrinnen. Alle waren den Naturgewalten ausgeliefert und mussten sich mit ihnen anfreunden, irgendwie arrangieren. Ansonsten hatte man verloren.
Das wollte keiner. Am Anfang gleich gar nicht, wenn alles noch ziemlich rosig war in der Fantasie, was einen erwarten würde. Doch die Wirklichkeit holte einen schnell ein. Den einen vielleicht erst nach Tagen, den anderen, weniger glücklichen, schon nach Stunden. Es gab kein Rezept dafür oder dagegen, keine Anleitung, keinen Erfahrungsbericht. Jeder erlebte es anders und musste seine Erfahrungen sammeln.
J eden konnte es schon am ersten Tag erwischen, an dem er sich aufs Neue entscheiden musste, will ich dies wirklich oder lasse ich es lieber sein? Erspare ich mir nicht besser diese Niederlage in meinem Leben?
Doch der, der sich schon in diesem zeitigen Stadium die Fragen stellen musste: „Ist der Jakobsweg etwas für mich? Habe ich alles richtig bedacht? Habe ich mich auch ausreichend darauf vorbereitet, physisch wie psychisch? Kann ich es überhaupt schaffen?“, der war nicht am Schlechtesten dran. Er durfte sich nochmals entscheiden.
Und wenn er sich ohne Wenn und Aber für das Weitergehen entschied, kam er erst in den echten Genuss der Freuden auf diesem Weg. Die Freuden, die alle erleben konnten, die sich auf den Weg machten, stolz zu sein auf die geleistete Wegstrecke, Freude im Zusammensein mit den anderen, in den Gesprächen, in den Gesten, in der erlebten Solidarität.
Alle waren unterwegs mit einem Ziel! Ohne dass sie jemand gezwungen hätte, oder dass sie etwa bezahlt worden wären für das, was sie taten. Alle gemeinsam und doch jeder für sich allein.

(aus: Herbert Noack „Albtraum Jakobsweg – Mord auf der Via Podiensis“)