Sollte es wirklich wahr werden? Das Ziel, das unendlich weit entfernte Ziel Santiago de Compostela im Jahre 2017 erreicht werden? Nach 15 Jahren? Allein der bloße Gedanke jagte mir einen Schauer über den Rücken. Alles wollte ich dafür tun, diesen Traum wahr werden zu lassen.
Es ging los. Einsteigen in den Flieger ab Stuttgart. Nach Landung in Bilbao schnell das Guggenheim-Museum besucht. Gegessen, in einem Hotel geschlafen. Dem gleichen wie letztes Jahr.
Am nächsten Morgen zeitig weiter mit dem Expressbus nach Burgos. Schlechtes Wetter empfängt uns. Regen. Viel Regen. Doch immer wieder Sonnenschein dazwischen. Es ist auch warm. Wir schlafen im del Cid, genau gegenüber der fantastischen Kathedrale. Viele Menschen nutzen den Tag und heiraten. Trotz Regen überall lachende Gesichter. Die Kathedrale von außen herrlich anzuschauen. Innen weniger. Zu sehr verwinkelt. Keine klaren Linien, keine freien Sichtachsen wo ich mit ungestörtem Blick das Kirchenschiff sehe. Als es dunkel wird kann ich meine Augen nicht abwenden, mich einfach nicht sattsehen. Ein wunderschöner, in Stein gemeißelter Anblick, ein großartiger gotischer Bau zum Ruhme des Allerhöchsten. Einfach unsagbar schön.
Am nächsten Tag ging es los. Wir wurden eins mit der Pilgerschar, die am frühen Morgen aufbrach, um die vielen hundert Kilometer nach dem Sehnsuchtsziel zu laufen. Jetzt konnte es beginnen. Nichts wird uns aufhalten.
Die Tage gingen dahin. Die Meseta kam, diese baumlose, eintönige, den Pilgerwillen formende Fläche. Weit vor sich sah man auf dem Weg die anderen Pilger laufen. Oh je, bis dorthin musste ich noch? Schwer vorstellbar, doch es dauerte nicht lang, da war der vorher erblickte Punkt erreicht und man lief weiter. Immer weiter.
Schon wieder ein Sonnenaufgang der einen für alles entschädigte. Richtig warm wurde es einem bei diesem Anblick ums Herz. Alles war vergessen. Die Anstrengungen, die schmerzenden Knochen, der lange, manchmal eintönige Weg. Und das man nicht allein unterwegs war.
Eine Herberge war überfüllt. Wenn man wollte wurde man abgeholt, sagte der Besitzer und man schlief dann vom Weg entfernt. Wir wollten und erfuhren, dass hier manche Szenen aus dem Film „Dein Weg“ gedreht wurden, der Enkel von Martin Sheen sich in die schöne Tochter des Hauses verliebte und nicht mehr heimkehrte in das elterliche Haus. Jedenfalls fast, denn kurz danach heirateten sie und der Enkel zog aus. Die Idee war geboren, einen Film, den Film, über den Jakobsweg zu drehen. Dramatischer natürlich, jetzt mit dem Tod des geliebten Sohnes auf dem Weg und die Suche des Vaters danach, was er auf dem Weg suchte. Die Fotos der Filmcrew hingen signiert an den Wänden. Zufälle gab es.
Später lernten wir Heidi aus San Diego kennen und Lorena aus Slowenien. Der Jakobsweg zog alle an, egal in welchem Land sie lebten.
Leon mit der beeindruckenden Kathedrale kam. Dann Astorga mit dem von Gaudi umgebauten Bischofspalast. Wir lernten Pieter kennen und Garry aus Australien. Ach nein, das war später nach dem mörderischen Abstieg durch das liebliche Nachtigallental vom Cruz de Ferro. Da tranken wir Wein. Viel Wein. Wir sahen sie noch oft auf dem Weg. Kurz vor Compostela verloren wir uns aus den Augen. Schade!
Vor dem Aufstieg zum Cruz de Ferro hatten wir Hubertus aus Hannover getroffen. Ein Mann um die 70 und stark wie eine Eiche. Er ging den Weg schon zum sechsten Mal.
Der Morgen am Cruz de Ferro war emotional. Wir legten unsere Steine ab, die von zu Hause mitgebrachten, die unsere Sorgen verkörperten, unseren Lebens-Ballast. Danach fühlten wir uns erleichtert. Der Weg war beschwingt und leicht. Eine Weile wenigstens.
Dann sahen wir Alex aus Bayern. Ein netter Kerl, der den Jakobsweg mit weit ausgreifenden Schritten zum wiederholten Male durchflog. Jeden Tag 40 – 50 Kilometer. Ein Wahnsinnsbursche. Und nett noch dazu. Ganz bescheiden.
Sarria kam und die Pilger veränderten sich. Viele hatten ab hier den Weg durchgetaktet, jeden Tag geplant und gebucht – das Hotel, das Essen, den Gepäcktransport. Ein Stück Pilgerweg zum Abhaken. Hundert Kilometer nur für die Compostela. Doch nicht für alle. Einige wollten tatsächlich Pilgeratmosphäre schnuppern und später vielleicht den Rest laufen, andere Städte auf dem Weg kennenlernen. Die anfängliche Angst wurde ihnen genommen. Es war möglich den Jakobsweg zu laufen, auch als einer unter vielen, auch wenn man nicht so durchtrainiert oder kein Freizeitsportler war.
O Cebrero kam, O krepiero stand im Pilgerführer, hatten ihn die Pilger getauft. Weniger schlimm als gedacht. Der Aufstieg war gut zu schaffen. Die folgenden 16 km Abstieg waren schwieriger.
Portomarin mit der endlos langen Brücke. Ein schlimmer Weg in die Stadt, die nachher ganz freundlich war. Dabei Rupert kennengelernt. Der Mann, fast 70, lief ihn mit Baumwollbeutel. Trotzdem ein netter Kerl. Anders, also mit Gepäck, hätte er den Weg wahrscheinlich nie geschafft.
Dann Hartmut und Susanne. Auch das erste Mal dabei. Am Anfang war er skeptisch, dann überwältigt. Was ist schon auf diesem Weg anders, als auf einem Wanderweg. Die anfängliche Frage konnten sie später selbst beantworten. Es war nicht schwer. Man musste auch in den kleinen Dingen suchen. Wir sahen uns oft. Auch abends.
Und Jochen. In fünf Tagen nach Santiago. Pilgern als Fastfoot, als Schnellimbiss. Wie unsere Zeit, unser Arbeitsleben und das andere Leben vielleicht auch. Trotzdem ein netter Kerl der es gewohnt war, durch die Welt zu eilen. Vielleicht später weniger schnell.
Dann endlich angelangt am Monte Gozo, dem Berg der Freude. In weiter Ferne, zwischen Neubauten, Autolärm und Baukränen musste sie sein, die Kathedrale, das Grab des Apostels. Man konnte sie nur erahnen. Sehen konnte man sie nicht.
Es zog sich. Noch eine Straße, noch eine Kreuzung, noch eine Kurve. Dann endlich die Altstadt. Viele Pilger. Das Gedränge wird dichter. Ich musste die ganze Zeit mit den Tränen kämpfen, vermochte sie kaum zurückzuhalten. Noch einen überdachten Durchgang. Dann sah ich sie. Eingerüstet zwar, doch wunderschön.
Wir legten uns rücklings auf den Platz und schauten nach oben zur Kathedrale. Es war unfassbar. Wir waren da. Älter zwar, aber gesund. Er hatte uns auf dem Weg oft ganz wenig gegeben, der Jakobus, doch es hatte ausgereicht. Bei allen Schwierigkeiten überwogen die Glücksmomente auf dem Weg. In der Erinnerung sowieso.
Eine starke Stunde anstehen für die Compostela. Stolz zeigen wir unseren Credenziale. Akribisch werden die Stempel überprüft. Dann steht es schwarz auf weiß auf der speziellen Urkunde – 2330km. Wahnsinn! Der Weg führte uns fast durch ganz Europa.
Während der Pilgermesse kaum einen Platz gefunden. Die Kirche brechend voll. Pilger an Pilger gedrängt, fast wie auf dem Weg. Zum Schluss fliegt das Weihrauchfass durch die Kirche, der 50kg schwere Botafumero. Fast bis unter die Decke. Eindrucksvoll. Mit offenen Mündern verfolgen wir das Schauspiel. Wir können es noch immer nicht glauben, dass wir angelangt waren.
Beim Bier lerne ich Sabine und Franz vom Bodensee kennen. Keine Pilger. Sie waren mit dem Auto hier. Es ergab sich ein Gespräch von fast zwei Stunden. Intensiv, offen, ganz tief, trotzdem lustig. Das ist nur auf dem Jakobsweg möglich.
Ende September der Rückflug. Witze machen gegen die Wehmut, ein Abschied nehmen mit einem Kloß im Hals. Sicherlich nicht für immer. Die Fassade und den Haupteingang der Kathedrale ohne Gerüst müssen wir unbedingt noch einmal sehen.
In Deutschland bekam ich von den beiden Schwaben eine Mail mit der Frage, ob ich die beiden auf dem beigefügten Foto kenne, die mit ihnen in der Unterkunft waren. Unglaublich! Es waren Pieter und Garry aus Australien. Sie lächelten uns zu. Wir mussten lachen. Es war doch klar. Solche Zufälle gab es nur hier, auf dem Camino Frances, dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela.
Buen Camino – Ultreia Santiago